Grenoble · 2024
Der Fall Henri Fabre: Sexuelle Übergriffe durch einen Frauenarzt und Mitbegründer des französischen Familienplanungsverbands
Der französische Familienplanungsverband "Le Planning familial" steht vor einer Konfrontation mit der eigenen Geschichte. Ein Frauenarzt, der als Pionier im Kampf für Frauenrechte galt, wird posthum der sexuellen Gewalt beschuldigt. Diese Enthüllungen werfen grundlegende Fragen über Machtmissbrauch in Gesundheitseinrichtungen auf und zeigen, wie selbst Organisationen, die sich dem Schutz von Frauen verschrieben haben, nicht vor patriarchalen Gewaltstrukturen gefeit sind.
Die Anschuldigung und das lange Schweigen
Ende Oktober 2024 machte der französische Familienplanungsverband einen Fall öffentlich, der das Selbstverständnis der Organisation erschüttert. Eine heute 84-jährige Frau, die in einigen Berichten unter dem Pseudonym "Irène" erwähnt wird, brach nach 60 Jahren ihr Schweigen über einen sexuellen Übergriff durch Henri Fabre, einen angesehenen Frauenarzt und Mitbegründer des Planning familial.
Die Frau berichtet von einem Vorfall aus dem Jahr 1961. Als 21-Jährige hatte sie das damals neu eröffnete erste Familienplanungszentrum in Grenoble aufgesucht, um Informationen über Verhütung zu erhalten – in einer Zeit, in der Frauen noch nicht frei über ihren Körper verfügen durften. Während sie entkleidet auf dem gynäkologischen Untersuchungsstuhl saß, näherte sich Fabre, damals 41 Jahre alt, mit heruntergelassener Hose und berührte ihr Geschlechtsteil mit seinem eigenen. "Ich habe mich zurückgezogen. Ich war fassungslos", berichtet die Frau heute.
Das Opfer schwieg jahrzehntelang über diesen Vorfall. Erst 2021 wandte sie sich an eine Zweigstelle des Planning familial in Grenoble, um über ihre Erfahrung zu sprechen. "Ich wollte es jemandem mitteilen. Es ist meine Geschichte, aber auch die Geschichte des Planning", erklärte sie.
Die verspätete Reaktion der Organisation
Bemerkenswert ist, dass der Planning familial erst im Oktober 2024 – drei Jahre nach der ersten Meldung – öffentlich auf den Vorwurf reagierte. In einer offiziellen Stellungnahme vom 29. Oktober 2024 erklärte die Organisation: "Wir unterstützen sie und danken ihr für ihr Zeugnis. Wir glauben ihr."
Der Verband betonte weiter: "Dass ein Frauenarzt in einer Machtposition solche Handlungen begangen hat, ist unerträglich. Dass er das Planning familial dafür benutzt hat, ist inakzeptabel." Die Organisation kündigte mehrere Maßnahmen an, um mit diesem Fall umzugehen und versäumte Reaktionen aufzuarbeiten.
Der Aufruf nach weiteren Zeugnissen
Als Reaktion auf diesen Vorfall hat der Planning familial einen Aufruf für Zeugenaussagen gestartet. Personen, die möglicherweise Opfer von Henri Fabre wurden, können sich per E-Mail (temoignageplanning@groupe-egae.fr) oder Telefon (01 89 96 00 28) melden. Die Zeugnisse werden von Expertinnen für Prävention sexueller Gewalt in einem streng vertraulichen Gespräch entgegengenommen.
Der Verband hat sich außerdem verpflichtet, zu untersuchen, ob es weitere Zeugenaussagen gibt, die andere Ärzte betreffen, die an der Gründung des Planning familial beteiligt waren. Die Organisation arbeitet dabei mit der auf dieses Thema spezialisierten Gruppe Egaé zusammen – demselben Team, das auch die Vorwürfe gegen den Abbé Pierre im Fall Emmaüs untersucht.
Weitere Zeugnisse und die Entwicklung des Falls
Der Aufruf scheint bereits Wirkung zu zeigen. Laut einem Artikel der Zeitung "Le Monde" vom 5. Februar 2025 sind nach dem öffentlichen Aufruf weitere Zeugenaussagen eingegangen. Insgesamt haben sich fünf Frauen gemeldet – vier direkt über die von Egaé verwaltete Hotline und E-Mail-Box, eine weitere wandte sich direkt an eine Zweigstelle des Planning familial in Isère.
Caroline De Haas, assoziierte Direktorin der Gruppe Egaé, betont die Bedeutung dieser Reaktionen: "Fünf Zeugenaussagen, das ist ziemlich erheblich angesichts der geringen medialen Aufmerksamkeit für diesen Fall". Diese weiteren Meldungen könnten auf ein mögliches Muster von Übergriffen hindeuten.
Die tiefen Abgründe eines Frauenarztes
Der Fall Henri Fabre ist besonders grotesk aufgrund seiner symbolischen Dimension. Fabre galt als angesehene Persönlichkeit im Kampf für Frauenrechte in den 1960er bis 1980er Jahren. Er eröffnete in Grenoble das erste Zentrum des Planning familial in Frankreich und setzte sich für das Recht auf Verhütung und Abtreibung ein.
Die Tatsache, dass ausgerechnet eine Schlüsselfigur in der Bewegung für Frauenrechte beschuldigt wird, einen sexuellen Übergriff verübt zu haben, erschüttert das Selbstverständnis der Organisation und zeigt die tiefe Verankerung patriarchaler Gewaltstrukturen, selbst in fortschrittlichen Kreisen.
Breiterer Kontext und strukturelles Problem
Der Planning familial betont in seiner Stellungnahme, dass dieser Fall Teil eines größeren strukturellen Problems ist: "Wir wissen, dass Gewalt nicht an den Türen von medizinischem Einrichtungen Halt macht, im Gegenteil. Das Patriarchat ist überall, ebenso wie die Ungleichheiten. [...] Der Status eines Arztes, einer Pflegekraft oder sogar eines Helfers schafft die Bedingungen für eine Asymmetrie und begünstigt daher die Existenz von Gewalt, indem ein System des Schweigens und der Straflosigkeit etabliert ist. Diese Gewalt ist politisch. Sie betrifft die gesamte Gesellschaft."
Dieser Fall reiht sich ein in eine Serie von Enthüllungen über sexuelle Gewalt in renommierten Institutionen, wie den parallel laufenden Vorwürfen gegen den Abbé Pierre, den Gründer der Hilfsorganisation Emmaüs.
Der Fall Henri Fabre verdeutlicht die hartnäckige Realität von Machtmissbrauch im medizinischen Umfeld und die Schwierigkeit für Opfer, darüber zu sprechen – besonders wenn die Täter gesellschaftlich angesehen und symbolisch aufgeladen sind.
Die verzögerte Reaktion des Planning familial auf die erste Meldung 2021 offenbart zudem die Herausforderungen, mit denen selbst fortschrittliche Organisationen konfrontiert sind, wenn es darum geht, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen und historische Figuren kritisch zu betrachten (Vgl. DGGG).
Die kommenden Monate werden zeigen, ob weitere Zeugnisse ans Licht kommen und wie der Planning familial diesen Fall nutzen wird, um strukturelle Veränderungen anzustoßen, die solche Übergriffe in Zukunft verhindern können.
Quellen:
Le Dauphine
Le Monde
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