Halle an der Saale
Der Fall Ingmar B.: Vergewaltigung im OP-Saal – Wie ein Narkosearzt seine Position ausnutzte
Ohne Schutz, wenn man ihn am meisten braucht
Ein schockierender Fall entblößt die dunkle Realität hinter verschlossenen OP-Türen: Der Narkosearzt Ingmar B. (46) nutzte die absolute Wehrlosigkeit seiner Patientinnen aus, um seine perversen sexuellen Fantasien auszuleben. Was unter dem Deckmantel ärztlicher Fürsorge im Diakoniewerk Martha-Maria Krankenhaus geschah, kam erst durch ein Geständnis ans Licht – die vergewaltigte Patientin weiß bis heute nicht, was ihr angetan wurde. Am 11. Dezember 2023 fiel das Urteil: vier Jahre Haft für einen Mann, der nicht nur im OP zum Täter wurde, sondern eine erschreckende Spur der Gewalt durch das Leben mehrerer Frauen und Kinder zog.
Der Täter – Ein Mann mit zwei Gesichtern
Ingmar B. studierte in Halle Humanmedizin und legte 2018 seinen Facharzt für Anästhesiologie ab. Er arbeitete viele Jahre am Martha-Maria-Krankenhaus, einem Haus, das unter dem Motto «Unternehmen Menschlichkeit» firmiert. Kollegen beschrieben ihn als «Mann mit zwei Gesichtern»: «Er ist ein kompetenter, bei der Arbeit stets verbindlicher Kollege. Aber er kann auch ein Monster sein.»
Diese Beschreibung sollte sich auf tragische Weise bewahrheiten. Hinter der Fassade des kompetenten Arztes verbarg sich ein Gewalttäter, der wiederholt Frauen und Kinder vergewaltigte und misshandelte, um seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen und sich selbst zu erregen.
Chronologie der Taten – Ein beunruhigendes Verhaltensmuster
2016-2017: Sexuelle Gewalt gegen die Stieftochter
Zwischen Januar 2016 und April 2017 verging sich Ingmar B. insgesamt sechsmal an der damals neun bzw. zehn Jahre alten Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin in deren Wohnung in Halle. Eine dieser Taten wurde von der Staatsanwaltschaft als schwerer sexueller Missbrauch eingestuft. Seine Handlungen waren geprägt von dem Verlangen nach sexueller Selbstbefriedigung und Machtausübung.
2019: Vergewaltigung im OP-Saal
An einem nicht genau bestimmbaren Tag im Jahr 2019 nutzte der Anästhesist seine berufliche Position aus, um eine betäubte Patientin im Operationssaal zu vergewaltigen. Er selbst hatte die Narkose eingeleitet und nutzte die vollkommene Hilflosigkeit der Frau aus, um sich sexuell zu stimulieren. Diese perfide Tat kam erst durch seine Selbstanzeige im Februar 2022 ans Licht, als er im Rahmen anderer Ermittlungen «reinen Tisch machen» wollte.
Gewalt gegen Partnerinnen und deren Kinder
In weiteren Fällen schlug Ingmar B. eine Lebensgefährtin mit einem Gürtel und stieß ihr während des Stillens ihres Babys einen gefüllten Werkzeugkoffer gegen den Kopf. Den Sohn dieser Frau trat er mehrfach, nachdem sich dieser aus Angst vor ihm auf den Boden geworfen hatte. Laut Anklage ging es dem Arzt dabei um «Züchtigung».
Juli 2020: Brutaler Angriff auf 20-jährige Frau
Im Juli 2020 fuhr Ingmar B. in Teutschenthal (Saalekreis) eine junge Frau (20) mit dem Fahrrad um und verprügelte sie anschließend brutal. Die Betroffene berichtete vor Gericht: «Er schlug mich mehrfach mit dem Kopf gegen die Karosse eines Autos. Obwohl ich bewusstlos wurde, hat er nicht aufgehört, er schleifte mich über die Straße, zerriss mein T-Shirt.» Ein forensisches Gutachten der Gerichtsmedizin bestätigte diese Darstellung. Für diese Tat wurde er bereits 2021 zu sechs Monaten Haft auf Bewährung und einer Schmerzensgeld-Zahlung verurteilt.
Das Gerichtsverfahren und die Verurteilung
Der Prozess am Landgericht Halle (Az. 14 KLs 2/23) begann am 10. November 2023. Ingmar B. erschien mit seinem Verteidiger, Rechtsanwalt Volker Junge (64) aus Bernburg, der den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Aussage seines Mandanten beantragte. Der Vorsitzende Richter stimmte zu, um den Betroffenen eine Zeugenaussage und somit eine Re-Traumatisierung zu ersparen.
Der Angeklagte hatte bereits im Ermittlungsverfahren alle Taten eingeräumt. Ein Sachverständiger legte im nicht-öffentlichen Prozess ein psychiatrisches Gutachten vor, das dem Angeklagten attestierte, dass seine Gewaltausbrüche Folge einer Erkrankung seien.
Am 11. Dezember 2023 wurde Ingmar B. zu vier Jahren Haft verurteilt. Das Gericht ordnete seine Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Einrichtung an. Ein Haftbefehl wurde aufgrund seiner psychischen Erkrankung vorerst nicht erlassen.
Die Betroffenen und die Folgen
Besonders bedrückend ist der Fall der vergewaltigten Patientin im OP-Saal. Sie weiß bis heute nicht, dass sie Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde – und wird es vermutlich nie erfahren. Die Unwissenheit über die Identität der Betroffenen führte zu großer Verunsicherung unter den Patientinnen des Krankenhauses, von denen sich manche fragten: «Bin ich vielleicht diejenige, die er vergewaltigt hat?»
Das Martha-Maria-Krankenhaus erfuhr erst durch die Medien von den Vorwürfen. Pressesprecher Volker Kiemle erklärte: «Uns waren und sind keine Vorkommnisse bekannt, die in der Anklage aufgeführt werden. Die Ermittlungsbehörden haben uns zu keinem Zeitpunkt im Zusammenhang mit der Anklage kontaktiert.» Das Arbeitsverhältnis mit Ingmar B. wurde Anfang 2021 beendet – vermutlich im Zusammenhang mit seiner ersten Verurteilung.
Die stille Gewalt im medizinischen Raum
Der Fall Ingmar B. wirft ein Licht auf ein oft verschwiegenes Problem: die Verwundbarkeit von Menschen in medizinischer Behandlung. Die Frau auf dem OP-Tisch befand sich in einem Zustand vollständiger Wehrlosigkeit. Die ärztliche Autorität, die eigentlich Schutz bieten sollte, wurde hier zum Instrument des Übergriffs, als der Arzt die Situation für seine sexuelle Stimulation ausnutzte.
Nachdenklich stimmt vor allem die Tatsache, dass ohne seine Selbstanzeige diese Tat im Verborgenen geblieben wäre. Wie viele ähnliche Übergriffe werden niemals aufgedeckt? Wie viele Menschen tragen die unsichtbaren Narben solcher Erlebnisse, ohne je davon zu erfahren?
Die tiefe Verunsicherung der Patientinnen des Krankenhauses verdeutlicht die weitreichenden Konsequenzen: Das grundlegende Vertrauen in medizinische Einrichtungen wird unterhöhlt. Die Frage bleibt drängend, wie vulnerable Menschen besser geschützt werden können, ohne das notwendige Vertrauen in die medizinische Versorgung zu untergraben – ein Spannungsfeld, das durch diesen Fall schmerzlich sichtbar wird.
QUELLEN
· «Anästhesist missbraucht Patientin auf OP-Tisch», t-online, 06.11.2023 ·
· «Staatsanwalt sicher: Narkose-Arzt missbrauchte Patientin auf dem OP-Tisch», Thilo Scholtyseck, BILD, 06.11.2023 ·
· «Narkose-Arzt bereits als Frauen-Schläger verurteilt», Thilo Scholtyseck, BILD, 09.11.2023 ·
· «Narkose-Arzt angeklagt: Sein Opfer weiß nicht, dass er es missbraucht hat», Thilo Scholtyseck, BILD, 10.11.2023 ·
· «Ehemaliger Arzt zu vier Jahren Haft verurteilt», MDR SACHSEN-ANHALT, 11.12.2023 ·