Achim
Unbegrenzte «Gründlichkeit»
Der Arztkittel als Tarnmantel für Vergewaltigungen
Milde Bewährungsstrafe für Vergewaltiger-Frauenarzt
Ein besonderes Vertrauensverhältnis wurde missbraucht: Das Amtsgericht Achim hat einen 58-jährigen Frauenarzt aus dem Landkreis Verden wegen sexuellen Missbrauchs zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Von den drei Anklagepunkten sah das Gericht einen als erwiesen an. Der Fall zeigt die Problematik von Übergriffen in einem Umfeld, in dem Patientinnen besonders verletzlich sind und Aussage gegen Aussage steht.
Die Vorwürfe im Detail
Die Staatsanwaltschaft warf dem Frauenarzt vor, zwischen 2010 und 2013 drei Patientinnen in seiner Praxis sexuell missbraucht zu haben. Laut Anklage soll er bei Untersuchungen des Vaginalbereichs keine Handschuhe getragen haben. Einer 45-jährigen Patientin gegenüber soll er seinen Penis an ihrem Knie gerieben sowie ihre Brüste und ihren Intimbereich gleichzeitig und medizinisch nicht erklärbar berührt haben.
Besonders gravierend war der Vorwurf einer 22-jährigen Patientin. Sie gab an, der Arzt habe während einer Untersuchung seine Hose geöffnet und seinen Unterkörper an ihren Intimbereich gedrückt. Genau in diesem Fall sah das Gericht die Schuld des Mediziners als erwiesen an.
Das problematische Machtgefälle in der gynäkologischen Untersuchungssituation
Der Fall offenbart einen selten diskutierten Aspekt in der Gynäkologie: die erhebliche Machtposition und Kontrolle, die ein Untersucher über Patientinnen hat. In kaum einer anderen medizinischen Situation sind Menschen so verletzlich wie auf dem gynäkologischen Stuhl – hell ausgeleuchtet, mit gespreizten Beinen, wobei die Position der Beinhalterungen vollständig vom Arzt bestimmt wird. Der Untersucher hat die Kontrolle über alle Aspekte der Untersuchung: Dauer, Intensität, verwendete Instrumente und die Körperhaltung der Patientin. Dazu gehört auch das berühmte «Nach vorne rutschen» – eine Anweisung, die Patientinnen in eine noch exponiertere Position bringt und die vollständige Verfügungsmacht des Untersuchenden über den Körper der Patientin unterstreicht.
Wir können der Realität ins Auge sehen: Sexuelle Erregung durch sexuelle Stimuli ist keine ungewöhnliche «Neigung», sondern eine natürliche Reaktion. Was hingegen problematisch ist, ist die bewusste Berufswahl mit dem Ziel, uneingeschränkten Zugang zu den Intimzonen von Patientinnen zu erhalten – insbesondere angesichts der Tatsache, dass in Deutschland auch Minderjährige routinemäßig gynäkologisch untersucht werden. Die Möglichkeit, intime Körperbereiche zu betrachten, Instrumente einzuführen, Gewebe zu manipulieren und dies alles unter dem Deckmantel der medizinischen Notwendigkeit zu tun, kann für manche ein entscheidender Faktor bei der Berufswahl sein – ein Aspekt, der in der medizinischen Ausbildung und Berufsethik kaum thematisiert wird. Geschweige denn im gesellschaftlichen Diskurs oder in Familien, wo die bloße Andeutung einer solchen Motivation mit Empörung zurückgewiesen würde. Es herrscht ein kollektives Schweigen nach dem Prinzip: Was nicht sein darf, kann nicht sein – selbst wenn die Indizien sich häufen und die Logik es nahelegt.
Medizinische Standards & kulturelle Unterschiede
Die Frage der Handschuhnutzung ist in diesem Fall besonders relevant. Während der Angeklagte betonte: «Ich trage selbstverständlich Handschuhe – schon aus Selbstschutz», sieht die Realität in frauenärztlichen Praxen oft anders aus. Bei bimanuellen Untersuchungen wird häufig nur die Hand, die vaginal untersucht, mit einem Handschuh versehen, während die abdominale Hand unbehandschuht bleibt – ein Umstand, der medizinisch fragwürdig ist und potentiell Raum für Grenzüberschreitungen bietet.
Besonders bedenklich ist auch die Qualität der verwendeten Handschuhe. Manche Frauenärzte tragen bewusst die dünnsten, billigsten Latexhandschuhe, die eher zum Haare färben geeignet wären als für medizinische Untersuchungen. Dies ermöglicht ein intensiveres «Fühlen» – wobei sich die Frage stellt, aus welcher Motivation heraus diese Wahl getroffen wird. Es ist erschreckend, was in Deutschland als normal angesehen wird und von Patientinnen ohne Hinterfragen akzeptiert wird.
Auch bei Brustuntersuchungen zeigt sich ein spezifisch deutsches Phänomen: Während in anderen Ländern wie Frankreich nicht-indizierte Brustuntersuchungen ohne Handschuhe zu öffentlichen Protesten führen würden, werden sie in Deutschland oft als Routine akzeptiert. Viele deutsche Frauen haben diese Praxis durch Mütter und Frauenärzte von der Pubertät an internalisiert und sehen sie als völlig normal an.
Die typische Begründung für solche nicht immer notwendigen Untersuchungen ist medizinisch fragwürdig: Oft wird argumentiert, man könne dadurch Krebs besser ertasten. Dies folgt einem bekannten Muster der Angsterzeugung (Krebs, Verantwortung) und der Selbstdarstellung als fürsorglicher Beschützer der Frauengesundheit. Medizinisch ist dieses Argument jedoch nicht haltbar, da selbst Fußpulse, die oftmals schwer zu tasten sind, beispielsweise in der Intensivmedizin durch Handschuhe hindurch präzise getastet werden können – es ist also eine Frage der Fertigkeit, nicht der direkten Berührung.
Der Prozessverlauf
Als der Prozess am 5. März 2014 begann, bestritt der Angeklagte vehement alle Vorwürfe. Seine Finger zitterten sichtlich zu Beginn der Verhandlung. Er betonte mehrfach, dass er über 50 Patientinnen täglich behandle, was es schwer mache, sich an Einzelheiten zu erinnern. «Ich muss es rekonstruieren», sagte der Angeklagte über die drei möglichen Tattage und seine Erinnerung daran.
«Ich trage selbstverständlich Handschuhe – schon aus Selbstschutz», erklärte der Arzt und bezeichnete die Anschuldigung, gleichzeitig Brust und Intimbereich berührt zu haben, als «schwer vorstellbar», da dies aus der Position vor einem Untersuchungsstuhl kaum zu bewerkstelligen sei.
Zu einem merkwürdigen Detail gab er an: Eine Patientin habe ihn mehrfach darauf hingewiesen, dass seine Hose geöffnet sei. Er habe sich erschrocken, «das war mir sehr peinlich gewesen», doch «sie war gar nicht offen», betonte der Angeklagte.
Zur Klärung der räumlichen Verhältnisse fand am 16. April 2014 sogar ein Ortstermin in der Praxis statt. Die Gerichtsabordnung untersuchte dabei insbesondere die Position am Untersuchungsstuhl. Die Verteidigung demonstrierte, dass die Patientin zu hoch gesessen hätte, als dass der vorgeworfene Übergriff möglich gewesen wäre. Bei einer erneuten Frage zur Höhe der Sitzposition versuchte Richter Halbfas, sein Insistieren zu erklären: «Die Höhe ist wichtig, sie waren ja allein mit ihm, wir müssen nun rausfinden, was passiert ist.» Die 22-jährige Betroffene widersprach dem Gezeigten und betonte, sie habe tiefer gelegen.
Die emotionale Belastung der Zeuginnen
Die Aussagen der mutmaßlichen Opfer waren von großer emotionaler Belastung geprägt. Die 45-jährige Zeugin, die zunächst gefasst über die Vorfälle sprach, vergoss später Tränen, als sie erklären sollte, warum sie nicht auf die mutmaßliche Annäherung reagiert hatte: «Ich war geschockt. Innerlich habe ich geschrien, aber ich bekam kein Wort heraus.»
Eine 25-jährige Betroffene machte immer wieder längere Pausen beim Erzählen und rang sichtlich um Fassung. Die jüngste Zeugin, die 22-Jährige, sagte nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus – ihre Aussage wurde jedoch letztendlich vom Gericht als besonders glaubwürdig eingestuft.
Belastende Umstände & entlastende Aussagen
Ein wichtiges Detail, das die Anklage stützte: Arzthelferinnen hatten bestätigt, dass der Frauenarzt sie an dem fraglichen Tag ungewöhnlich früh in die Mittagspause entlassen hatte, obwohl noch eine Patientin in Behandlung war. Dies erschien dem Gericht verdächtig.
Als entlastende Zeuginnen traten zwei ehemalige Arzthelferinnen auf. Eine 50-Jährige betonte: «In dieser Praxis ist der Patient keine Nummer.» Der Mediziner sei trostspendend «gegenüber einer jungen Frau wie gegenüber einer 90-Jährigen». Sexuelle Absichten habe sie nie erkennen können.
Die zweite Arzthelferin, eine 61-Jährige, beschrieb den Umgang des Frauenarztes mit seinen Patientinnen als «sehr kompetent, sehr menschlich, sehr einfühlsam» und erklärte: «Ich habe es nie erlebt, dass sich irgendwer beschwert hat.»
Bagatellisierung & Schutzmechanismen im Praxisumfeld
Die Aussagen der ehemaligen Arzthelferinnen spiegeln ein bekanntes Muster wider, das häufig bei sexuellen Übergriffen in hierarchischen Strukturen zu beobachten ist. Durch die Betonung der Menschlichkeit und Kompetenz des Arztes relativieren sie indirekt die Vorwürfe der Patientinnen.
Die Aussage «Ich habe es nie erlebt, dass sich irgendwer beschwert hat» ist ein klassisches Beispiel für die Invalidierung der Erfahrungen der Betroffenen. Sie impliziert, dass die drei Patientinnen entweder lügen oder überreagieren, da es in der Vergangenheit scheinbar keine ähnlichen Vorfälle gab.
Bemerkenswert ist auch, dass beide Frauen weiterhin Patientinnen des Arztes sind. Dies deutet auf ein fortbestehendes Abhängigkeitsverhältnis hin und könnte ihre Aussagen beeinflusst haben. Als ehemalige Mitarbeiterinnen könnten sie zudem ein Interesse daran haben, nicht mit einem potenziell missbräuchlichen Arbeitsumfeld in Verbindung gebracht zu werden.
Die Bagatellisierung von Übergriffen durch Personen im Praxisumfeld dient oft dem eigenen Selbstschutz: Die Vorstellung, dass ein geschätzter Kollege solche Taten begangen haben könnte, ist psychologisch belastend und wird daher unbewusst abgewehrt. Stattdessen werden positive Eigenschaften überbetont und die Glaubwürdigkeit der Opfer in Frage gestellt.
Gedankenexperiment · Die Strategie des perfekten Tarns
Wenn man das Verhaltensmuster des angeklagten Frauenarztes analysiert, ergibt sich ein beunruhigendes Bild eines möglicherweise kalkulierenden Vorgehens – ähnlich dem, was Kriminologen bei intelligenten Tätern in Machtpositionen beobachten:
Ein Frauenarzt mit ausreichender Intelligenz für ein Medizinstudium entwickelt wahrscheinlich keine zufälligen, unkontrollierten Übergriffe. Vielmehr könnte hier ein systematisches Vorgehen dahinterstehen: Die sorgfältige Konstruktion eines makellosen öffentlichen Images als vertrauenswürdiger, einfühlsamer und hoch professioneller Mediziner. Gerade die übermäßige Betonung seiner Menschlichkeit, wie sie die ehemaligen Arzthelferinnen vorbrachten, könnte Teil dieser sorgfältig gepflegten Fassade sein.
Nach dem Vorbild anderer intelligenter Täter in Vertrauenspositionen präsentiert er sich als «nice guy» – mit lupenreiner weißer Weste, verheiratet, selbst Vater von drei bis vier Kindern, Töchter usw., völlig asexuell in seinem Berufskontext, ein Profi durch und durch. Dass jemand verheiratet ist und eigene Kinder hat, ist dabei kein Argument gegen mögliches sexuelles Fehlverhalten – im Gegenteil kann dieser Status als zusätzlicher Schutzschild dienen. Das Schlüsselwort «einfühlsam und gründlich» bekommt hier eine doppelte Bedeutung: Was als medizinische Sorgfalt dargestellt wird, könnte in Wirklichkeit ausgedehnte, nicht indizierte Untersuchungen legitimieren.
Seine potentiellen Opfer wählt er möglicherweise gezielt aus: junge, unerfahrene Frauen, die nicht wissen, welche Untersuchungen medizinisch indiziert sind und welche nicht. Brustuntersuchungen vor dem 30. Lebensjahr oder vaginale Untersuchungen bei beschwerdefreien jungen Frauen unter 20 sind medizinisch oft nicht notwendig, werden aber dennoch durchgeführt – gegen alle Regeln und Standards, wie es seit Jahrzehnten in der Frauenheilkunde leider immer wieder vorkommt.
Er vertraut darauf, dass diese jungen Patientinnen nicht wissen, was normal ist und was nicht, was notwendig ist und was übergriffig. Die «besondere Gründlichkeit» wird zum perfekten Tarnmantel für unangemessene Berührungen. Vor seinem engeren Umfeld – der Ehefrau, den medizinischen Fachangestellten, einflussreichen Patientinnen – hält er die Maske des tadellosen Arztes aufrecht, weil diese Personen sein Fehlverhalten aufdecken könnten.
Bemerkenswert an diesem Fall ist auch das frühe Entlassen der Arzthelferinnen in die Mittagspause – ein möglicher Hinweis darauf, dass bewusst eine Situation ohne Zeugen geschaffen wurde. Dies passt ins Bild des planvollen Vorgehens.
Trotz dieser Analyse wäre es jedoch möglich, dass es sich eher um einen Situationstäter handelt, wie er in der Forschung zur sexualisierten Gewalt in Heil- und Pflegeberufen häufig dokumentiert wird. Situationstäter nutzen die Gelegenheiten ihrer beruflichen Position aus, ohne notwendigerweise eine langfristige Strategie zu verfolgen. Sie machen den größten Prozentsatz der Täter aus und lassen sich oft durch klare institutionelle Regelungen und Konsequenzen abschrecken. Laut einer Studie von Fegert, Clemens und Hoffmann (2021) sind solche Übergriffe in medizinischen Kontexten keine Seltenheit und erfolgen oft durch Täter, die die sich bietenden Gelegenheiten ihrer beruflichen Position ausnutzen.
Das Urteil · Bewertung der Glaubwürdigkeit & widersprüchliche Maßstäbe
«Aussage gegen Aussage» – dieser Ausdruck fiel häufig während des Prozesses. Bei seiner Urteilsverkündung am 23. April 2014 machte Richter Heiko Halbfas deutlich, dass die Entscheidung schwierig war.
In zwei Fällen sprach er den Angeklagten frei, da die Zeuginnenaussagen zu unsicher erschienen. Eine Patientin habe «in der Verhandlung gezeigt, dass sie sich in vielen Punkten nicht mehr eindeutig erinnerte». Zudem ging es darum, ob eine Untersuchung zu lang durchgeführt wurde – etwas, das laut Richter «kaum zu ermessen» sei und «keine strafbare Handlung erfüllt». Lassen wir dahingestellt sein, welche Qualifikation der Richter besitzt, um die medizinische Angemessenheit einer gynäkologischen Untersuchungsdauer zu beurteilen, und wen er dafür als beratende Instanz hinzuzieht. Fraglich bleibt auch, ob solche Experten aus Eigeninteresse für ihre eigene Legitimation völlig unbefangen in ihrer "Expertise" sein können.
Der Verteidiger machte zudem Diskrepanzen in den Zeugenaussagen geltend. So habe eine der Betroffenen mal davon gesprochen, aus der Praxis "gegangen" zu sein, an anderer Stelle jedoch, sie sei "rausgestürzt" – eine scheinbar kleine Abweichung in der Wortwahl, die jedoch genutzt wurde, um die Glaubwürdigkeit grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.
Die Aussage einer weiteren Patientin stufte der Richter als «unsicher» ein. Sie habe zum Teil eingeräumt, «nicht mehr zu wissen, an welchen Terminen was passiert ist.»
Bemerkenswert erscheint der widersprüchliche Umgang mit den Aussagen der Betroffenen. Obwohl drei Frauen unabhängig voneinander ähnliche Vorwürfe erhoben, wurde nur einer von ihnen geglaubt. Die Begründung des Gerichts, die anderen zwei Aussagen seien «zu unsicher», wirkt problematisch: Warum sollten Erinnerungslücken bei Details die grundsätzliche Glaubwürdigkeit der beschriebenen Übergriffe in Frage stellen? Gerade bei traumatischen Erlebnissen ist es wissenschaftlich belegt, dass Opfer oft Schwierigkeiten haben, alle Details chronologisch korrekt wiederzugeben. Dennoch wurde dies hier gegen die Glaubwürdigkeit der Betroffenen verwendet.
Im Fall der 22-jährigen Patientin sah der Richter die Aussage jedoch als schlüssig an. Die Darstellung des Angeklagten – der behauptet hatte, die junge Frau trotz Brustbeschwerden in den Untersuchungsstuhl gebeten zu haben, weil sie den Unterleib frei gemacht habe – bezeichnete er als «lebensfremd». «Aus meiner Sicht ist das eine lebensfremde Darstellung», hielt der Richter fest. Unterstützt wurde die Glaubwürdigkeit der jungen Frau durch die Aussage ihres Vaters, der bestätigte, wie aufgelöst seine Tochter nach dem Arzttermin gewesen sei.
Die Plädoyers
In seinem Plädoyer zollte der Staatsanwalt allen Beteiligten Respekt. Allen sei der Prozess «sehr schwer gefallen», dennoch hätten sie sich «ausgesprochen sachlich und fair verhalten». Es gebe nur zwei Möglichkeiten, warum die Patientinnen etwas Falsches gesagt haben könnten: «Lüge oder Irrtum.» Bei einer Lüge stelle sich die Frage nach dem Motiv: «Warum sollte sie hier den Angeklagten zu Unrecht belasten?», fragte er in den gut gefüllten Verhandlungssaal. Es sei keine offene Streiterei und kein finanzielles Interesse vorhanden.
Zur Hauptbelastungszeugin stellte der Staatsanwalt fest, sie habe «völlig klare Angaben» gemacht. Einen Irrtum schloss er daher aus. Der Staatsanwalt forderte eine Gesamtstrafe von einem Jahr und zwei Monaten.
Der Verteidiger argumentierte: «Das reicht einfach nicht» und forderte einen Freispruch. Dabei wollte er die Patientinnen nicht einmal der Lüge bezichtigen: «Die meisten unzulässigen Aussagen rühren eben nicht aus einer Lüge», meinte er. Es gebe genügend Spielraum für Irrtümer in diesem Grenzbereich zwischen frauenärztlicher Untersuchung und sexueller Annäherung.
Die unverhältnismäßig milde Strafe
Die verhängte Strafe von neun Monaten auf Bewährung erscheint angesichts der Schwere der Tat bemerkenswert mild. Man stelle sich vor: Ein Mann ohne den schützenden Arztkittel, der vergleichbare sexuelle Übergriffe begeht, müsste mit mehrjährigen Haftstrafen von sechs, sieben oder sogar mehr Jahren rechnen. Die milde Strafe wirft die Frage auf, ob Ärzte durch ihren Status einen besonderen Schutz vor konsequenter strafrechtlicher Verfolgung genießen.
Besonders deutlich wird die Diskrepanz bei der rechtlichen Einordnung: Die im Prozess bewiesenen vaginalen Übergriffe würden nach § 177 StGB bei jedem anderen Täter als Vergewaltigung eingestuft werden. Der Strafrahmen hierfür liegt bei mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe, in schweren Fällen sogar bei fünf Jahren und mehr. Diese rechtliche Doppelmoral wird noch problematischer, wenn man bedenkt, dass laut BZgA-Studien etwa 81% der 16-jährigen Mädchen in Deutschland bereits gynäkologisch untersucht wurden – weit früher als in anderen europäischen Ländern, wo solch frühe Untersuchungen ohne medizinische Indikation kritisch gesehen werden.
Mit neun Monaten Haft auf Bewährung blieb das Gericht deutlich unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, die ein Jahr und zwei Monate verlangt hatte. Selbst diese Forderung erscheint bereits gering angesichts der Tatsache, dass es sich um einen besonders schwerwiegenden Vertrauensbruch handelt, bei dem ein Arzt seine Machtposition ausnutzte, um sexuelle Übergriffe zu begehen.
Folgen für den Arzt & die Betroffenen
Bereits während des Prozesses berichtete der Frauenarzt von erheblichen wirtschaftlichen Einbußen. Es habe einen «Shitstorm auf Facebook» gegen ihn gegeben, so sein Verteidiger. Frauen seien aufgefordert worden, sich gegen den Mediziner zu stellen. Der Arzt gab an, wegen des schlechten Rufs etwa 40 bis 50 Prozent weniger Patientinnen zu haben als vor den Anschuldigungen, was er als «wirtschaftlichen Einbruch» bezeichnete. Laut Verteidiger sei seinem Mandanten im Internet auch gedroht worden.
Abschließende Bewertung & Ausblick
Das Urteil war zum Zeitpunkt der Berichterstattung noch nicht rechtskräftig – sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung konnten Rechtsmittel einlegen.
Der Fall verdeutlicht die besondere Problematik sexueller Übergriffe in frauenärztlichen Praxen: Das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patientin, die fehlenden Zeugen und die Schwierigkeit der Beweisführung. Er zeigt auch, wie medizinische Prozeduren als Deckmantel für Übergriffe missbraucht werden können und wie schwer es für Patientinnen ist, zwischen notwendiger medizinischer Untersuchung und Missbrauch zu unterscheiden – besonders wenn sie jung und unerfahren sind.
Das Urteil wirft zudem die Frage auf, ob die frauenärztliche Praxis ausreichend reguliert und überwacht wird und ob Patientinnen genügend aufgeklärt sind, um unangemessene Untersuchungen zu erkennen und zu melden. Nicht zuletzt verdeutlicht der Fall die doppelten Standards in der Rechtsprechung: Während Ärzte mit milden Bewährungsstrafen davonkommen können, müssten andere Täter mit deutlich härteren Konsequenzen rechnen. Bemerkenswert bleibt auch, dass der Angeklagte bis zum Schluss seine Unschuld beteuerte, trotz der erdrückenden Beweislast und der glaubwürdigen Aussagen seiner Opfer.