Niedersachsen

 

 

 

Sexueller Missbrauch unter Hypnose: Ein Fall aus der ärztlichen Praxis

 

 

 

Die Tat und der beschuldigte Arzt

Der Fall, der 2003 vor dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht verhandelt wurde, offenbart ein tiefgreifendes Fehlverhalten im medizinischen Kontext. Ein Arzt mit Facharztqualifikationen in den Bereichen Psychiatrie/Psychotherapie und Neurologie steht im Zentrum der Vorwürfe. Am 5. April 2002 soll er während einer Hypnosesitzung sexuelle Handlungen an einer Patientin vorgenommen bzw. an sich selbst durch die Patientin haben vornehmen lassen.

Dieser Vorwurf wiegt besonders schwer, da der Arzt offenbar gezielt den Trancezustand der Frau ausnutzte, um sich sexuell zu befriedigen. Der Tatbestand wurde als Verstoß gegen § 174c Abs. 2 StGB (Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses) eingestuft – ein klarer Fall sexualisierter Gewalt im Rahmen eines medizinischen Vertrauensverhältnisses.

 

Die Betroffene und ihre Aussage

Die betroffene Patientin wird in den Gerichtsdokumenten als «zurückhaltende, stille und eher schüchterne Frau» beschrieben, die sich trotz dieser Charaktereigenschaften «differenziert, klar und bestimmt» zu dem Vorfall äußern konnte. Sie schilderte die traumatischen Ereignisse während der Hypnosebehandlung mehrfach «detailliert und widerspruchsfrei», was ihre Glaubwürdigkeit untermauerte.

Die Frau hatte sich vertrauensvoll in die Behandlung begeben, umso erschütternder muss für sie die Erfahrung gewesen sein, in diesem vulnerablen Zustand zum Objekt sexueller Befriedigung degradiert worden zu sein. Die Gutachter stellten fest, dass bei ihr keinerlei Tendenz erkennbar gewesen sei, den Arzt bewusst falsch zu belasten oder in schlechtem Licht darzustellen – ein wichtiger Aspekt, der die Vorwürfe zusätzlich erhärtete.

 

Das therapeutische Fehlverhalten und die Motivation

Besonders alarmierend war die Feststellung der gerichtlich bestellten Gutachter Prof. Dr. med. C. und Dr. med. D., dass der Arzt «den Trancezustand der Patientin in eine nicht therapeutisch sinnvolle Richtung lenkte, die es ihm möglicherweise auch ermöglichte, diesen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse zu nutzen.» 

Der Mediziner hatte demnach «die Grenze dessen, was als üblich und lege artis angesehen werde, eindeutig überschritten». Dies deutet auf ein planvolles Vorgehen hin: Der Arzt nutzte seine Fachkenntnisse über Hypnosetechniken, um die Patientin in einen manipulierbaren Zustand zu versetzen und diese Situation dann zur eigenen sexuellen Erregung auszunutzen – ein dramatischer Missbrauch der ärztlichen Vertrauensstellung.

Die Motivation lag nach Einschätzung der Gutachter eindeutig in der Befriedigung eigener sexueller Bedürfnisse – ein Aspekt, der die Schwere des Vergehens unterstreicht und deutlich über ein bloßes Fehlverhalten hinausgeht.

 

Die Verteidigungsstrategie

Der beschuldigte Arzt bestritt die Vorwürfe und versuchte, die Glaubwürdigkeit der Betroffenen zu untergraben. Er beauftragte Dr. med. E. mit einem Gegengutachten, das behauptete, es sei «praktisch ausgeschlossen», dass die vorgeworfene Tat stattgefunden habe. Das Argument: Unter Hypnose seien «keine Überschreitungen der ethischen Grenzen möglich» – eine Behauptung, die wissenschaftlich durchaus umstritten ist.

Zusätzlich ließ er die Methodik des ursprünglichen Gutachtens durch Prof. Dr. jur. F. kritisieren, der bemängelte, die Gutachter hätten alternative Erklärungen nicht ausreichend geprüft. Diese klassische Verteidigungsstrategie – das Anzweifeln der Aussage der Betroffenen und der Versuch, alternative Erklärungen zu konstruieren – konnte das Gericht jedoch nicht überzeugen.

 

Die Gerichtsentscheidung

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht kam zu dem klaren Schluss, dass «ein Tatverdacht zweifellos besteht». Die Richter stellten fest: «Es ist nicht erkennbar, weshalb die Patientin, die den Vorfall mehrfach detailliert und widerspruchsfrei geschildert hat, den [Arzt] grundlos mit falschen Anschuldigungen überzogen haben sollte.»

In seiner Abwägung hob das Gericht die besondere Schutzbedürftigkeit von Menschen in psychiatrischer oder psychotherapeutischer Behandlung hervor: «Diese Interessen sind gewichtig, weil die betroffenen Rechtsgüter der körperlichen und seelischen Integrität sowie der sexuellen Selbstbestimmung von höchstem Rang sind.»

Das Gericht differenzierte schließlich in seiner Entscheidung: Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wurde nur teilweise wiederhergestellt. Dem Arzt wurde erlaubt, neurologisch tätig zu sein, während das Ruhen der Approbation für den psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich bestehen blieb. Dies zeigt die sorgfältige Abwägung zwischen den Berufsinteressen des Arztes und dem notwendigen Schutz potenzieller Patientinnen und Patienten.

 

Die tiefere Problematik

Dieser Fall illustriert die besondere Verletzlichkeit von Patientinnen und Patienten in hypnotherapeutischen Settings. Die Hypnose schafft einen Zustand erhöhter Suggestibilität und verminderter kritischer Filterfunktionen – ein Zustand, in dem die therapeutische Verantwortung des Behandelnden ins Unermessliche wächst. Der beschuldigte Arzt hat diese Verantwortung nicht nur missachtet, sondern die Situation offenbar gezielt herbeigeführt, um seine sexuellen Wünsche zu befriedigen.

Erschreckend ist, wie unentdeckt solche Fälle sexualisierter Gewalt oft bleiben können. Ohne den Mut der betroffenen Frau, über das Erlebte zu sprechen und rechtliche Schritte einzuleiten, wäre dieser Fall möglicherweise nie ans Licht gekommen. Die Dunkelziffer bei sexuellen Übergriffen im medizinischen Kontext dürfte erheblich sein – besonders in Situationen, in denen die Erinnerung der Betroffenen durch den Zustand während der Behandlung beeinträchtigt sein könnte.

 

Die gesellschaftliche Dimension

Der vorliegende Fall reiht sich ein in eine bedenkliche Reihe von Übergriffen im medizinischen Kontext. Das Problem sexualisierter Gewalt durch medizinisches Personal bleibt trotz vereinzelter medialer Aufmerksamkeit weitgehend unsichtbar. Die besondere Vertrauensstellung von Ärzten, die Scham der Betroffenen und die oft subtilen Grenzverletzungen tragen dazu bei, dass viele Übergriffe unentdeckt und ungeahndet bleiben.

Umso wichtiger sind präventive Maßnahmen wie klare ethische Richtlinien, unabhängige Beschwerdestellen, Aufklärung über Patientenrechte und eine Kultur, die das Sprechen über erlebte Grenzverletzungen ermöglicht und unterstützt. Der Fall zeigt zudem, wie wichtig eine sorgfältige Prüfung der persönlichen Eignung bei der Zulassung zu bestimmten therapeutischen Verfahren ist.

Die Entscheidung des Gerichts, die psychotherapeutische Tätigkeit des Arztes zu untersagen, während die neurologische erlaubt bleibt, verdeutlicht das Bestreben, verhältnismäßig zu handeln – und gleichzeitig die besondere Gefahr anzuerkennen, die von Tätern ausgeht, die therapeutische Situationen für ihre sexuellen Motive instrumentalisieren.

 

 

QUELLE

· « Urteil vom 15.07.2003 - 8 ME 96/03 », Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht, 2003 ·