Kaufbeuren

Frauenarzt vergewaltigte minderjährige Patientinnen und durfte weiterpraktizieren

 

 

 

Ein alarmierender Fall von sexualisierter Gewalt durch einen Frauenarzt wurde Ende der 1990er Jahre in der Allgäuer Stadt Kaufbeuren bekannt. Was vordergründig als isolierter Vorfall betrachtet werden könnte, entpuppt sich bei genauerer Analyse als Ausdruck eines grundlegenden Problems: Ein medizinisches und gesellschaftliches Umfeld, das Machtmissbrauch begünstigt und Betroffene im Stich lässt. Ein 47-jähriger niedergelassener Frauenarzt, der in der örtlichen Gemeinschaft hohes Vertrauen genoss, vergewaltigte über Jahre hinweg Minderjährige während angeblich medizinisch notwendiger Untersuchungen – eine Serie von Straftaten, die durch fehlende Kontrollen und kollektives Wegsehen möglich wurden.

 

Vergewaltigung im Namen der Medizin

Mit der Behauptung medizinischer Notwendigkeit führte der Arzt vaginale Untersuchungen an gesunden Mädchen durch, darunter ein Kind unter 14 Jahren. Er nutzte die fadenscheinige Begründung, «hygienische Mängel» zu beseitigen, um seine Patientinnen zu vergewaltigen – eine Praxis, die selbst nach seiner Anklage im Oktober 1996 ungehindert fortgesetzt wurde. Bis zu seiner Verurteilung 1998 praktizierte er weiter und wurde sogar zum gynäkologischen Notdienst eingeteilt, zuletzt konkret vom 29. Oktober bis 3. November 1997.

«Bei einem so dringenden Verdacht [kann es] doch nicht angehen, dass überhaupt nichts unternommen wird», protestierte Franziska Stoll, Leiterin des örtlichen Frauenhauses, damals ohne Erfolg. Die Kassenärztliche Vereinigung und der Ärztliche Kreisverband hüllten sich in Schweigen – ein Schweigen, das unbequeme Fragen aufwirft.

 

Die Betroffenen: Verletzte Seelen und Körper

Mindestens fünf Jugendliche und ein Kind wurden Betroffene sexualisierter Gewalt, zwei weitere erlitten sexuelle Erniedrigungen. Die Mädchen im Alter von 13 bis 17 Jahren kamen zur Beratung, doch stattdessen wurden sie auf dem Untersuchungsstuhl zu Betroffenen schwerer sexueller Übergriffe. Ihre Namen bleiben ungenannt, ihre persönlichen Erlebnisse nur bruchstückhaft dokumentiert – ein Umstand, der die fortbestehende gesellschaftliche Neigung zeigt, sexualisierte Gewalt auszublenden.
Eine junge Frau formulierte später ihr Trauma so: «Man vertraut diesem Mann, weil er Arzt ist. Und dann wird man in diesem weißen Raum zurückgelassen – mit der Erkenntnis, dass genau dieser Mann das Schlimmste getan hat, was man sich vorstellen kann.»

 

Institutionelles Versagen: Ärztliche Solidarität vor Patientinnenschutz

Die Reaktion der beteiligten Ärzteschaft ist fragwürdig: Anstatt klare Distanz zum Beschuldigten zu wahren, fühlten sich zwei Ärzte einer Kaufbeurer Praxisgemeinschaft lediglich genötigt, eine Anzeige zu schalten, um «verwandtschaftliche Verbindungen» auszuschließen. Der Täter durfte trotz schwerwiegender Vorwürfe weiter praktizieren und wurde sogar für den gynäkologischen Notdienst eingeteilt.

Erst nach massiven öffentlichen Protesten und Medienberichterstattung reagierte die Kassenärztliche Vereinigung Schwaben. Am 20. November 1997 erklärte ihr Vorsitzender Werner Melcher, dass der angeklagte Gynäkologe nicht mehr zum Notdienst eingeteilt werde, solange das Verfahren gegen ihn laufe. Melcher räumte ein: «Es ist durchaus verständlich, dass sich Frauen gegen eine solche Einteilung wehren. Schließlich könnten in einem solchen Fall Patientinnen keinen Einfluss darauf nehmen, wer sie behandelt.»

Seine verspätete Reaktion begründete Melcher damit, dass ihm «das ganze Ausmaß der Angelegenheit erst durch die Berichterstattung in den Medien bekannt geworden sei» und äußerte Verärgerung darüber, von seinen Kaufbeurer Kollegen nicht hinreichend informiert worden zu sein. Auch die Staatsanwaltschaft habe der Vereinigung keinerlei Informationen zukommen lassen. Der Leitende Oberstaatsanwalt Günther Meltendorf ließ jedoch gegenüber der taz durchblicken, dass bei einem erneuten Vergehen des Arztes geprüft werden müsse, ob mit der Notdienstregelung ein strafbares Verhalten der Vereinigung vorliege – eine subtile Drohung, die möglicherweise zur späten Reaktion beigetragen hat.

 

Eine unbequeme Wahrheit: Ein System, das Täter anzieht

Der Fall Kaufbeuren ist kein Einzelfall, sondern zeigt ein System, das sexualisierte Gewalt begünstigt:
• Ungleiche Machtverhältnisse: Die Position des Arztes steht über individuellen Grenzen
• Schutz durch die Institution: Berufsverbände stellen Kollegialität über Patientinnenwohl
• Kulturelle Konditionierung: Frühe gynäkologische Untersuchungen normalisieren Grenzverletzungen
• Mangelnde Überwachung: Keine technische Kontrolle, keine zweite weibliche Person im Raum

 

Verteidigung, Verurteilung und verzögertes Verfahren

Vor Gericht leugnete der Frauenarzt jegliches Fehlverhalten und behauptete, die vaginalen Untersuchungen seien medizinisch notwendig gewesen. Seine Patientinnen hätten «wegen erheblicher hygienischer Mängel im Intimbereich erst von ihm gesäubert werden müssen» – eine Aussage, die sowohl vom medizinischen Gutachter als auch von anderen Frauenärzten klar als falsch eingestuft wurde.

Am 2. März 1998 wurde der Täter zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten ohne Bewährung verurteilt – eine Strafe, die angesichts der Schwere seiner Taten als unverhältnismäßig mild angesehen werden kann.

Besonders kritikwürdig ist die lange Verzögerung zwischen Anklageerhebung (Oktober 1996) und Hauptverhandlung (Januar 1998). Der Leitende Oberstaatsanwalt Günther Meltendorf begründete diese Verzögerung mit der «langen Dauer bis zur Erstellung der angeforderten Gutachten» – ein Umstand, der den Täter weitere Monate ungehindert praktizieren ließ.



QUELLEN


· « Angeklagter Frauenarzt weiter im Notdienst », Klaus Wittmann, taz (die tageszeitung), 19.11.1997 ·

· « Kassenärzte reagieren auf Proteste - Angeklagter Frauenarzt nicht mehr im Notdienst », Klaus Wittmann, taz (die tageszeitung), 20.11.1997 ·

· « Übergriffe im Arztkittel », Klaus Wittmann, taz (die tageszeitung), 3.3.1998 ·